Sonntag, 13. August 2023, 16:30h
Zurück in den Jemen
Es gibt immer wieder Vorfälle im Arbeitsalltag, die mich verzweifeln lassen. Einer davon hat sich vor kurzem ereignet. Es geht um einen Klienten, den ich seit Anfang des Jahres im Rahmen der Sozialberatung betreue. Herr L. ist im Jemen geboren, genauer gesagt in Aden, das bis 1963 als Kronkolonie zum britischen Empire gehörte. Die Vorfahren von Herrn L. entstammen Britisch-Indien, dem Aden bis 1937 unterstellt war.
Der 77jährige Herr L. lebt seit vielen Jahrzehnten in Deutschland und bezieht hier mittlerweile auch eine Rente. Eigentlich wollte er in Deutschland auch seinen Lebensabend verbringen. Doch jetzt hat sich Herr L. vor kurzem dazu entschlossen, wieder in sein Heimatland zurückzukehren. Wie kam es dazu? Man kann den Grund in einem Satz formulieren: Herr L. hat nicht mehr genug Kraft, um sich gegen die deutschen Behörden durchzusetzen!
Herr L. hat gesundheitliche Einschränkungen und benötigt schon seit längerem eine neue Wohnung, da seine jetzige im dritten Stock liegt und kein Fahrstuhl vorhanden ist. Er hat es geschafft – obwohl dies nicht immer sehr einfach ist – einen sogenannten Dringlichkeitsschein zu erhalten, der ihn als vordringlich Wohnungssuchenden ausweist. Allerdings hat dies in Hamburg mittlerweile kaum Bedeutung, da die Wohnungssituation eine nicht endende Katastrophe ist. Für Herrn L. gäbe es jedoch aufgrund seines Alters einen Lichtblick, da für ihn auch Seniorenwohnanlagen in Frage kommen. Da Herr L. mit einer Bewerbung überfordert ist und ich im Rahmen der Sozialberatung keine Begleitung anbieten kann, habe ich mich hilfesuchend an die örtliche Seniorenberatung gewandt, die auf ihrem Flyer ausdrücklich „Unterstützung bei der Suche nach einer geeigneten Wohnform“ anbietet und die in der Regel auch über Kontakte zu den betreffenden Einrichtungen hat. Dies wurde jedoch abgelehnt, da dafür nicht genug Zeit vorhanden wäre und ich erhielt lediglich eine Liste mit den entsprechenden Adressen.
Im Rahmen der Beratung konnten wir dann die Bewilligung von Wohngeld erreichen. Die Ausstellung einer verbilligten Monatskarte für Schwerbehinderte wurde allerdings zuerst abgelehnt. Mein Telefonat mit dem Schwerbehindertenamt ergab einen interessanten Einblick in die Arbeitsweise von Behörden. Die Ablehnung beruhte darauf, dass man davon ausging, Herr L. hätte eine kostenfreie Wertmarke beantragt, die aufgrund des Rentenbezugs jedoch nicht in Frage kommt. In der Ablehnung hätte man natürlich ohne viel Mühe darauf hinweisen können, dass trotzdem auf jeden Fall eine vergünstigte Wertmarkte gewährt werden kann. Als ich im Telefonat sagte, Herr L. möchte ins Amt kommen, um die Sache zu regeln, wurde mir ziemlich unwirsch geantwortet, dass es keine Gründe gibt, persönlich im Amt zu erscheinen, alles könnte online oder telefonisch erledigt werden. Mein Argument, dass ein Großteil der Schwerbehinderten damit erfahrungsgemäß überfordert sei, stieß auf Unverständnis. Ich stellte also einen neuen Antrag mit der richtigen Formulierung, der dann auch bewilligt wurde, was jedoch für Herrn L. ohne Unterstützung eine Überforderung dargestellt hätte.
Auch mit der Beantragung eines Pflegegrades kam Herr L. nicht weiter, denn sein Antrag wurde abgelehnt, wobei in der Ablehnung mindestens zwei Gründe genannt wurden, die definitiv nicht der Wahrheit entsprechen und widerlegt werden können. Auch mein Widerspruch ergab keine Änderung der Entscheidung.
Mir wurde schnell klar, dass für Herrn L. das Sinnvollste die Unterstützung durch eine gesetzliche Betreuerin wäre, die ich dann auch für ihn mit einer kleinen Stellungnahme meinerseits beantragte. Herr L. willigte auch ein, obwohl es für ihn nicht wirklich nachvollziehbar war, da er ja eigentlich nur eine Hilfe bei der Wohnungssuche und bei einer erneuten Beantragung eines Pflegegrades benötigte. Von Seiten der Betreuungsstelle und der von ihr kontaktierten Seniorenberatung war man eher skeptisch, da Herr L. nicht die Kriterien einer „betreuungsrelevanten Erkrankung“ erfüllen würde. Dies sah der beauftragte Gutachter glücklicherweise anders und Herrn L. wurde gesagt, dass das Gericht sich irgendwann bei ihm melden würde.
Und hier endet die Geschichte, denn Herr L. hat den Glauben daran verloren, dass sich an seinem Kampf um eine behindertengerechte Wohnung und einen Pflegegrad irgendetwas ändern wird. Für ihn sind die ablehnenden Bescheide, das ständige Warten und die damit verbundene Ungewissheit nicht mehr erträglich und er fällte die Entscheidung, in den Jemen zurückzukehren. Alle Versuche meinerseits, noch ein kleines bisschen Geduld zu haben, scheiterten.
Die Entscheidung von Herrn L. hat mich mit Bestürzung erfüllt, zumal er ein ausgesprochen freundliches und sympathisches Wesen hat und zwischen uns eine fast schon freundschaftliche Beziehung entstand. Vor meinem geistigen Auge sehe ich jetzt einen 77jährigen kranken Mann, der in ein Land zurückkehrt, in dem immer noch Bürgerkrieg und Korruption herrscht und in dem der hygienische und medizinische Standard katastrophal ist.Außerdem ist der Jemen ein streng muslimisches Land und es gibt dort gegenüber Menschen, die nicht arabischer Herkunft sind mit Sicherhei Vorbehalte.
Wie kann es sein, dass jemand, der seit Jahrzehnten in Deutschland gelebt und gearbeitet hat und bestens integriert ist, jetzt nur deswegen in so schwierige Verhältnisse zurückkehrt, weil er in einem Land mit hohen Standard in medizinischer und sozialer Versorgung keine Hilfe erhält? Was ist das für ein Hilfesystem, das auf Unterstützung angewiesene Menschen so ins Leere laufen lässt? Wieso müssen Hilfesuchende so viel Barrieren überwinden und wieso gibt es keine Beratungsstellen mehr, die über die erforderlichen Kontakte und Befugnisse verfügen, um schnell und unbürokratisch die entscheidenden Schritte einzuleiten?
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Sonntag, 18. September 2022, 21:22h
Positive Fehlerkultur, Beschwerdemanagement, Kundenfreundlichkeit - aber auch ein erster Hoffnungsschimmer im Reich der Euphemismen
Wenn man sich die Entwicklung der Begrifflichkeiten innerhalb der letzten Jahrzehnte ansieht, erhält man den Eindruck einer Gesellschaft, die die richtigen Antworten auf gesellschaftliche Probleme hat. Wer seinen Blick jedoch nicht auf Begrifflichkeiten beschränken kann, weil er sich entweder selbst in einer sozialen Problemlage befindet oder aber als Sozialarbeiter Probleme lösen muss, der kann die Augen nicht vor der Zunahme sozialer Probleme verschließen: Obdachlosigkeit, Verarmung, Langzeitarbeitslosigkeit, Drogensucht, Gewalt in der Familie und in Schulen, Erfordernis einer Betreuung und soziale Verelendung haben nachweislich zugenommen.
Wer sich für den Beruf des Sozialarbeiters oder Sozialpädagogen entscheidet, weiß, dass er täglich mit Missständen und Leid konfrontiert wird. Auch mir war dies Mitte der Achtziger bei Beginn meines Studiums bewusst. Was mir jedoch erst sehr spät bewusst wurde, ist der Umstand, dass ich mein Studium noch vor der Zeit des beginnenden Neoliberalismus absolvierte. Und das kommt einer Zeitenwende gleich, denn damals wurde Sozialarbeit noch nicht ausschließlich durch betriebswirtschaftliches Denken bestimmt. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass Probleme noch als Probleme benannt wurden und es niemanden in den Sinn gekommen wäre, etwas Negatives positiv zu bezeichnen, Euphemismen waren daher verpönt.
Man könnte jetzt entgegnen, dass Begriffe wie positive Fehlerkultur, Beschwerdemanagement, und Kundenfreundlichkeit doch für an sich positive Entwicklungen stehen. Und genau das stellt einen Trugschluss dar. Die Intension des Beschwerdemanagements liegt nicht darin, fehlerhaftes Handeln zu reflektieren, um zu mehr Qualität zu gelangen, sondern die Intension ist eine rein betriebswirtschaftliche: Kritik schadet dem Unternehmen und verringert den Umsatz. Das gleiche gilt für die merkwürdige Wortschöpfung des Begriffs "Positive Fehlerkultur". Fehler sind nicht positiv, sondern schaden und müssen daher grundsätzlich Konsequenzen nach sich ziehen. Wenn eine Einrichtung oder ein Betrieb gravierende Fehler macht, reicht es nicht, dies auf der Personalebene zu diskutieren, sondern Verantwortliche müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Und was den Begriff der Kundenfreundlichkeit betrifft, so steckt der Fehler schon im Begriff des "Kunden", der die eigentlichen Machtverhältnisse innerhalb einer Beratungs- oder Betreuungssituation bewusst verschleiern möchte und ein völlig ebenbürtiges "Geschäftsverhältnis" suggeriert. Vor Jahren habe ich mich bereits in einem früheren Beitrag ausführlich dazu geäußert.
Wenn ich mir die Beiträge dieses im Jahr 2007 begonnenen Blogs ansehe, zieht sich die Thematik Qualität Sozialer Arbeit versus Gewinnmaximierung wie ein roter Faden durch die Beiträge. Bei Beginn des Blogs war ich noch rechtliche Betreuerin und daher mit dem befremdlichen Umstand konfrontiert, dass die komplexe Aufgabe der Betreuung überwiegend schwerkranker Menschen auch von Immobilienmaklern und Industriekauffrauen wahrgenommen wird. Mittlerweile arbeite ich schon einige Zeit nicht mehr als rechtliche Betreuerin und bei den meisten Kollegen handelt es sich um Sozialpädagogen oder Erzieher. Aber dennoch hat sich das Selbstverständnis bzw. die Ausrichtung der betreffenden Einrichtungen geändert. Auch hier wird mittlerweile das Klientel als "Nutzer*innen" bezeichnet und die Einrichtung als "Firma" oder gGmbH. Und auch hier wird von "positiver Fehlerkultur" gesprochen, obwohl selbst bei schwerwiegenden Fehlern keinerlei Konsequenzen erfolgen.
Die Problematik der Verwendung von Euphemismen geht weit über das der rein sprachlichen Ebene hinaus: es geht darum, dass man gesellschaftliche Probleme überhaupt erst dann lösen kann, wenn sie als solche erkannt und bezeichnet werden! Unsere Gesellschaft braucht keine nach betriebswirtschaftlichen Kriterien angelegte auf Imagepflege gerichtete Außendarstellung, sondern eine ehrliche und offene Benennung von Defiziten, um die Probleme des Klientels (nicht der Kunden!) besser zu verstehen und geeignete Lösungsstrategien zu entwickeln. Und dies bedingt zwingend die Mitbeteiligung der eigentlichen Betroffenen: Arbeitslose, Obdachlose, Heimbewohner, Patienten, Angehörige und Betreute.
In Bezug auf den Bereich der Rechtlichen Betreuungen gibt es jetzt einen kleinen Hoffnungsschimmer. Der Betreuungsgerichtstag e.V. plant das Projekt Hört mir zu - redet mit mir!, das Raum bieten soll für Menschen, die unter rechtlicher Betreuung stehen. Somit wird endlich die Möglichkeit geschaffen, dass Betreute eine Stimme erhalten und sich aktiv für ihre Rechte einsetzen können. Mit anderen Worten: erstmalig wird die Chance eines offenen Dialogs eröffnet, in dem es nicht um eine möglich positive Außenwirkung geht, sondern um die Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten für die schon seit langem bestehende Kritik an der Praxis der Führung von Betreuungen.
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Montag, 4. April 2022, 19:40h
Die großen Lücken unseres Sozialen Netzes
Dass jemand in Deutschland trotz einer Beschäftigung unter die Armutsgrenze fallen kann, ist mittlerweile so manchem bekannt. Wie existenzbedrohend und zugleich grotesk sich dies manchmal gestaltet, möchte ich hier mal anhand eines Beispiels aus meiner Arbeitspraxis erzählen:
Ich betreue eine 55jährige Frau, die aufgrund psychischer Erkrankung schon seit längerem nicht mehr arbeitsfähig ist und die mit ihrem Lebensgefährten in sogenannter "Bedarfsgemeinschaft" lebt. Da das Gehalt des Partners nicht ausreichend für zwei Personen ist, müssen Hartz-IV-Leistungen gewährt werden. Durch den Erhalt eines Weihnachtsgeldes lag das Einkommen der Bedarfsgemeinschaft jedoch plötzlich über dem Bedarfssatz und die Leistung wurde eingestellt, wobei dies nicht nur für den Monat des Erhalts gilt, sondern für die nächsten 6 (!) Monate, auf die die Summe für den einzelnen Monat angerechnet wird. Hierdurch taucht zusätzlich das Problem auf, dass meine Klientin plötzlich nicht mehr krankenversichert ist und sich selbst versichern muss, was wiederum rund 200 Euro kosten wird.
In Deutschland können zwar die Hartz-IV-Leistungen aufgrund eines über der Bedarfsgrenze liegenden Einkommens wegfallen, aber gleichzeitig wird trotzdem eine gewisse Bedürftigkeit anerkannt, die wiederum unter Umständen die Gewährung von Wohngeld rechtfertigt. Der Lebenspartner meiner Klientin muss also bei einer anderen Behörde einen Wohngeldantrag stellen, wozu alle Unterlagen, die dem Jobcenter bereits vorliegen erneut beschafft und vorgelegt werden müssen.
Geld wird also auf einer Seite gestrichen und von anderer Stelle unter bestimmten Voraussetzungen wiederum weiter gewährt. Jemand mit ausreichendem Einkommen mag sich fragen, warum dies ein Problem darstellt. Nur als Betroffener oder Sozialarbeiter/Betreuer weiß man, dass dieses ganze Prozedere einer zähen Zeitversetzung unterliegt, die zwangsläufig Lücken schafft, in denen kein Geld fließt. Jeder Bescheid wird immer erst im nachherein bewilligt, da die entsprechenden Einkommensbelege auch erst im nachherein vorgelegt werden können. Hierdurch wiederum kommen die laufenden Zahlungsverpflichtungen wie Miete, Strom, Gas, Versicherungen etc. ins Stocken, was wiederum Mahnungen oder Versicherungslücken zur Folge hat.
Zurück zu meiner Klientin. Ich hatte schon nach kurzer Zeit den Eindruck einer beginnenden Demenz. Mit der behandelnden Ärztin wurden dann weitere Untersuchungen besprochen, die meine Vermutung leider bestätigten. Sogar von Seiten des Jobcenters wurde bereits vor zwei Jahren die Arbeitsfähigkeit durch einen Gutachter in Frage gestellt, was allerdings von der Rentenversicherung per Aktenlage (!) abgewiesen wurde. Aber selbst wenn jetzt durch die Untersuchungsergebnisse die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente bewilligt werden muss - es besteht aufgrund von Beitragslücken kein Anspruch!
Während in den ersten Jahren nach der Hartz-IV-Reform zum Arbeitslosengeld II auch Zahlungen an die Rentenkasse gehörten, wurde dies plötzlich eingestellt. Davon hat die Öffentlichkeit kaum Notiz genommen, auch ich habe dies erst durch die Bescheide meiner damaligen Betreuten erfahren. Wer immer gearbeitet hat, aber dann infolge von Arbeitslosigkeit in einem bestimmten Zeitraum keine Beiträge mehr zahlen konnte, verliert den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente. Aber so ganz ins Nichts fällt niemand, denn es gibt ja noch die Grundsicherungsleistung (vormals Sozialhilfe), die nicht erwerbsfähigen Menschen gewährt werden muss, wenn das Einkommen nicht ausreicht.
Meine Betreute, beziehungsweise ihr Lebensgefährte, müssen also einen - ebenfalls sehr umfangreichen - weiteren Antrag an eine weitere Behörde, nämlich das Grundsicherungsamt, stellen. Wiederum müssen alle Unterlagen, die bereits beim Jobcenter und inzwischen auch beim Wohnungsamt vorliegen, erneut vorgelegt werden. Wer eine kaufmännische Ausbildung hat, wird vielleicht mit den Unmengen von Antragsformularen so einigermaßen klarkommen, die meisten Menschen sind jedoch damit heillos überfordert.
Aber auch für Profis ist das ganze Prozedere schwierig, denn eine Behörde bewilligt oftmals erst dann, wenn eine andere Behörde abgelehnt hat. Wenn das Wohnungsamt in diesem Fall Wohngeld bewilligt, wird eventuell der Anspruch auf Grundsicherungsleistung nicht mehr bestehen. Wenn der Antrag beim Jobcenter auf Bezuschussung des Krankenkassenbeitrags bewilligt wird, wird sich dies wiederum auf die Berechnung des Wohngelds auswirken. Das Grundsicherungsamt wird eventuell (hoffentlich nicht) auf die Beantragung der Rente bestehen, weil ein aktueller Ablehnungsbescheid erforderlich ist. Last not least - im Juni geht alles wieder von vorne los, da dann ja die sechs Monate der Verrechnung des Weihnachtsgeldes enden.
Wie soll dies eigentlich jemand psychisch durchstehen, der einer Vollzeitbeschäftigung nachgeht und der sich nach der Arbeit um seine kranke und inzwischen zunehmend pflegebedürftige Lebensgefährtin kümmern muss?
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